„Wir schenken der Welt ein menschliches Gesicht!“

Realschüler aus Gerolzhofen tauchen in die Welt von Senioren ein

17.11.2016
Sieglinde Scholz liebt es, sich etwas von Nele vorlesen zu lassen.

Als Raman zehn Jahre alt war, lebte er noch in Syrien. „Da habe ich mich um meine Oma gekümmert“, erzählt der heute 14-Jährige von der Ludwig-Derleth-Realschule in Gerolzhofen. Raman mag und schätzt alte Menschen. Daher war er gleich dabei, als die Offene Ganztagsschule (OGS) im September das Projekt „young meets old“ mit der Seniorenresidenz startete. Alle 14 Tage besuchen seither sieben Schüler der achten und neunten Klasse die Bewohner des benachbarten Altenheims.

„Einige dieser Bewohner bekommen nur sehr wenig Besuch“, berichtet Sonja Messerschmitt, Leiterin des vom Kolping-Bildungszentrum Schweinfurt organisierten Angebots „Offenen Ganztagsschule“. Für diese betagten Männer und Frauen ist es eine höchst willkommene Abwechslung, wenn die sieben Jugendlichen am Dienstagnachmittag hereinschneien und Leben in die Bude bringen. Die Jugendlichen wiederum können von den alten Menschen eine ganze Menge lernen. Jeder einzelne Senior hat in einem langen Leben viel erfahren und mitgemacht. Worüber oft spannend berichtet wird.

Jeder Jugendliche hat einen alten Menschen, um den er sich ganz besonders kümmert. Nele zum Beispiel lernte in den letzten Wochen Sieglinde Scholz näher kennen. 78 Jahre ist die Seniorin alt. Ursprünglich stammt sie nicht aus der Schweinfurter Gegend. „Ich wurde im Rheinland groß“, erzählt sie. Die ersten Lebensjahre waren vom Krieg überschattet. Scholz’ Mutter floh mit dem damals acht Jahre alten Kind aus Schlesien in den Westen. Der Vater wurde im Krieg getötet. Was für die kleine Sieglinde nicht leicht zu verkraften war.

Überhaupt waren die Zeiten schwierig: „Wir hatten nicht viel Geld, nachdem meine Mutter Witwe war.“ Sieglinde Scholz war etwa so alt wie die 13-jährige Nele, als sie schon zum Arbeiten geschickt wurde. Zu jener Zeit, als Deutschland in Trümmern lag, war an lange Bildungskarrieren kaum zu denken. Mit 14 Jahren gingen die meisten Mädels von der Schule ab. Sieglinde Scholz kam zu fremden Leuten, um im Haushalt zu helfen: „Das tat ich jeden Tag von morgens bis abends.“

Die Sache machte ihr Spaß. Weshalb sie den Beruf der Hauswirtschafterin gern von der Pike auf erlernt hätte. Doch das ergab sich nicht. Anders als heute, wo nahezu jedes Mädchen einen Beruf erlernt, war es in den 1950er Jahren üblich, dass weibliche Teenager eine Weile arbeiten gingen und dann heirateten. Auch Sieglinde Scholz lernte ihren Mann früh kennen. Als sie 19 war, traten die beiden vor den Traualtar.

Interessant ist es für die Jugendlichen, von den Senioren zu erfahren, dass es bei allen Unterschieden auch eine Menge Parallelen zwischen den „Backfischjahren“ damals und den „Teenagerjahren“ heute gibt. Viele der Acht- und Neuntklässler aus der Ludwig-Derleth-Realschule tanzen zum Beispiel gern. Vor allem moderne Tänze wie Breakdance stehen hoch im Kurs. Auch Sieglinde Scholz hat viele schöne Erinnerungen an Tanzveranstaltungen. Außerdem las sie für ihr Leben gern. Eine Leidenschaft, die sie ebenfalls mit vielen der Realschüler  teilt.

Bei Senioren Erinnerung an die eigene Jugend und damit an schöne, aufregende Zeiten wachzurufen, ist laut Sonja Messerschmitt ein Hauptziel von „young meets old“. Die Schülerinnen und Schüler wiederum sollen in der Seniorenresidenz erfahren, wie wertvoll Menschen sind, die als „unproduktiv“ gelten, weil sie nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen. Die Lebensleistung eines jeden dieser alten Menschen imponiert und weckt Respekt.

Gleichzeitig werden die Kinder damit konfrontiert, dass alles im Leben vergänglich ist. Jeder Heimbewohner hat mindestens einen, die meisten haben mehrere Verluste zu verkraften. „Mir hat beim letzten Besuch eine Seniorin erzählt, dass ihr Mann gestorben ist“, berichtet Levin. Sie hat darüber nicht gejammert oder geklagt. Ganz neutral hat sie davon erzählt. Jedem Menschen ist nun einmal nur eine gewisse Lebenszeit geschenkt. Levin hat das gut verstanden. Die Erwähnung des Todes hat denn auch die Begegnung nicht überschattet. Sondern die beiden eher ein bisschen einander näher gebracht.

Elisbeth Scheller